Zur Ausstellung EFACH, EINFACH in der Kunsthalle Appenzell, 2013
Stefan Steiner – „efach, einfach”
Ein Maler steigt auf einen Berg, um zu zeichnen. Er ist nicht eigentlich an der Landschaft interessiert, sondern an einer Linie. Es geht um die Horizontlinie, die Grenze, die Himmel und Erde trennt. Während der zwei Wochen auf der Rigi wechselt das Wetter ständig, und selten ist der Horizont klar zu packen. Die Zeichnungen, nach der Rückkehr sorgfältig in zwei Büchern gebunden, zeigen Annäherungen an eine Linie, auch Kämpfe, eine Partitur nervös suchender Striche, aber keinen Horizont.
Er liegt irgendwo dazwischen.
„Rigi - Rigi Scheidegg”, 1990: Die beiden in der Art eines Skizzenbuchs gebundenen Bücher fallen eher etwas aus dem Rahmen der zwischen Buchkunst, Objekt und Konkreter Poesie changierenden Künstlerbücher Stefan Steiners. Schon mit dem frühesten Beispiel der Appenzeller Ausstellung, die Steiners gesamte Produktion auf diesem Gebiet von 1985 bis heute erstmals lückenlos präsentiert, begibt sich der Schweizer auf nicht klar definierbares Terrain: ‹Quadrat› ist eher ein Objekt als ein Buch. Ein Stapel hochwertigen Papiers, in perfekte Proportionen geschnitten und mit einfachen Klammern zwischen zwei Eisenplatten eingespannt. Mitten hindurch führt eine kleine quadratische Öffnung. Die Leerstelle wird zum Bindeglied. Dass sie sich im Innern von Blatt zu Blatt im Rhythmus der Fibonacci-Folge in einen spiralförmigen Hohlraum erweitert, bleibt von aussen unsichtbar. Konkretion verbindet sich mit Witz und ausgeprägtem Sinn für das Handwerkliche.
Moskitos
Spielerische Erkundungen begleiten die Malerei. Über die Gestaltung seiner Bücher entdeckt Steiner das malerische Potenzial der Schmauchspuren, die abgebrannte Streichhölzer auf einer weissen Fläche hinterlassen. Schmauchspuren sind unpersönlich; sie übertragen keine Handschrift - und doch sind sie höchst assoziativ und vielseitig interpretierbar. Sie dienen beim Bildaufbau als Katalysatoren für erste Setzungen, auch wenn sie während des Malprozesses wieder überklebt werden. Als unspezifische Fremdkörper brechen sie den Illusionsraum der Farbe und lenken den Blick auf das Bild als Gegenstand. Dabei finden sich in der Malerei ähnliche Bestrebungen einer räumlichen Verortung der Farbe wie in den Büchern. Sie exponiert nach aussen, was sich bei den Büchern in ein zu öffnendes und wieder verschliessbares Reservoir zurückzieht. Als luzide Membran sitzt sie auf der Aussenfläche ausgesprochen objekthafter Kästen aus Sperrholz oder bahnt sich als konzentrierte Setzung auf kleinen Papierkuben ihren Weg in die dritte Dimension. Selbst die grossen Aquarelle lassen der Farbe genügend Freiheit, sich mit dem Raum zu verbinden. Expandierende Farbräume versus Introspektion anhand der kleinen Geste.
Steiner hat in seinen Büchern schon verschiedene Experimente mit Schmauchspuren durchgeführt, als er die Bekanntschaft mit William Faulkners Roman ‹Moskitos› macht, in dem von den titelgebenden Moskitos immer nur indirekt die Rede ist. Der Roman beschränkt sich auf die Umschreibung und kennzeichnet damit Literatur als eine Kunst der Annäherung. Der Künstler fertigt ein in Format und Umfang mit Faulkners Roman identisches Buch aus 324 weissen Seiten an und brennt an den Stellen, an denen im Original die Moskitos indirekt auftauchen, ein Zündholz ab. So entsteht eine ganze Reihe von Büchern mit ‹Moskitos nach William Faulkner› nebst Variationen wie ‹Moskitos nach William Faulkner, linksfliegend aus der rechten Hand› oder ‹Moskitos nach William Faulkner, rechtsfliegend aus der linken Hand›. Die Moskitos werden zum Topos der Leerstelle. Allmählich machen sie sich von den Schmauchspuren unabhängig. Stattdessen wird ein Stempel für ‹Moskito› eingesetzt. Schliesslich kommt Aquarellfarbe dazu. Sogar als auch der Stempel verschwindet und nur die Farbe zurückbleibt, leben die Moskitos in Titeln wie ‹Keine Moskitos nicht nach William Faulk-ner›, 2009, weiter. Von dort können sie jederzeit wieder in die Bücher zurückkehren.
Schusterjungen und Hurenkinder
Die Selbstverständlichkeit, mit der sich die Disziplinen mischen, ist vielleicht das signifikanteste Charakteristikum von Steiners Ansatz. Er unterscheidet ebensowenig zwischen Bildender Kunst und Literatur (oder Musik), wie zwischen Malerei, Buchkunst und Objekt. Einige seiner Bücher widmen sich der synästhetischen Beziehung zwischen Sprache und Farbe. Schlägt man den umfangreichen Band ‹Immergrün›, 1995, auf, versinkt der Blick in einem Meer aus Schattierungen der Farbe Grün. Dabei ist es der immer gleiche Stempel, mit dem die Seiten in einem halbmechanischen Duktus durchgestempelt wurden. Aber es gibt keine zwei identischen Abdrücke. Der Stempel wurde zuerst in blaue, dann in gelbe Farbe gedrückt, so dass sich zarte Verläufe herausbilden. Statt der mit dem Begriff «Stempel» konnotierten Gleichförmigkeit rufen die aufspringenden Buchseiten den Eindruck von etwas Bewegtem, Vegetativem hervor. Und erinnern nebenbei daran, dass sich die Farbtöne im konventionellen Buchdruck aus mehreren Farben zusammensetzen, was die exakte Farbwiedergabe bei einer Reproduktion erschwert. Steiner bemerkt dazu: «Wie sieht der ideale Katalog eines Malers aus? Gemalte Farben können nicht reproduziert werden, Farbwörter schon.» Wieder geht es um Annäherungen: Vielleicht ist ein durch Sprache hervorgerufener Farbeindruck wirklicher als eine Reproduktion? In dem himmelblau gebundenen Buch ‹Blaupause› ordnen sich bei jedem Umblättern immer neue poetische Bilder für Grün, Gelb und Rot zu einem imaginären blauen Grundton.
Die Verweise und Bezüge zwischen Steiners Malerei und den Künstlerbüchern sind zahlreich, dennoch bleiben es eigenständige Bereiche. Die Buchkunst beschäftigt sich mit der Malerei, die Malerei mit der Buchkunst. Bei einem Buch wie ‹Stras-senstaub›, dessen Seiten mit Halbkreidegrund grundiert sind, so dass der Schmutz beim Durchblättern haften bleibt und die Seiten allmählich füllt, könnte man von Malerei im Buchformat sprechen. Auch ‹mh› handelt von Malerei. Aber eben auch davon, wie viele Seiten ein Buch haben sollte oder welche Rolle die Bindung spielen kann.
Eine Arbeit wie ‹kleine Erzählung von Schusterjungen und Hurenkindern› von 2006 scheint sich dagegen zuerst ganz auf das Metier des Typographen zu konzentrieren. «Hurenkinder» und «Schusterjungen» bezeichnen in der Typographie unbotmässige Schwänzchen oder Ansätze eines Absatzes am Anfang bzw. Ende eines Seitenumbruchs. In der aquarellierten ‹kleinen Erzählung› kommen die geschmähten «Ausrutscher» zu neuen Ehren. Wieder ist es das Buch, das den Weg ebnet zur Malerei. Der Künstler setzt die leuchtende Aquarellfarbe innerhalb eines mit feinen Bleistiftlinien gezogenen Rasters, das die Fläche in der Art eines Satzspiegels gliedert. Wieder ist die Ausgangssituation bewusst einfach, oder, um im Appenzeller Dialekt zu sprechen, «efach». Sie schafft einen klaren und neutralen Rahmen. Eine selbstgewählte Grenze, innerhalb derer sich das Spektrum unendlicher Möglichkeiten frei entfalten kann.
Sabine Elsa Müller ist Autorin für Kunst und Kultur und lebt in Köln.
sabine.elsa.mueller@gmx.de
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