Moskitos verschwinden

Zu Stefan Steiners Malerei


»Tu me fais tourner la tête.«   Edith Piaf, um 1955


Wenn ich in letzter Zeit eingeladen werde, um bei einer Vernissage zu reden, stelle ich mir immer mehr die Frage, ob das eigentlich noch sehr sinnvoll ist?
Denn was hat ein Redner zu tun? Ausser den jeweiligen Künstler zu lobpreisen? Und besonders schwierig wird es, wenn es um Malerei geht. Denn was sollte ich Ihnen, die sich doch bereits in der Geschichte der Malerei auskennen, Neues oder Bedeutendes erzählen?
Aber vielleicht ist das Neue und das Bedeutende gar nicht so wichtig? Vielleicht sollten wir die angeblichen Nebensächlichkeiten in das Zentrum der Betrachtung stellen? Nebensächlichkeiten, die etwas grundsätzliches haben – deswegen möchte ich in das Zentrum meines Grusswortes Begriffe wie Ordnung, Notwendigkeit und Freiheit stellen.

1. Ordnung

Bis in das Alter von 30 Jahren sah ich »Ordnung« als negativen Begriff, als Umschreibung für Zwang und Unterdrückung. Das hat sich dann langsam geändert, vor allem, als ich erkannte, dass Ordnung das Leben erleichtern kann. Letztendlich als ich verstand, dass Ordnung kein gesellschaftlicher Begriff, sondern eine geistige Methode ist. Das hätte ich bereits 1990 in den Arbeiten von Stefan Steiner erkennen können, wenn ich es denn gewusst hätte. Habe ich aber nicht, weswegen meine damaligen Texte zu Stefan Steiner für mich heute fremd sind.
Rückblickend kann ich sagen, dass in den Arbeiten von Stefan Steiner immer ein Ordnungs­faktor da war – von ihm »Moskitos« genannt, ich würde diese Ausgangs- oder Fixpunkte der Bildkompositionen als berechnete Elemente bezeichnen. Allerdings nicht im Sinne einer einfachen Mathematik, eher im Sinne der Wahrscheinlichkeitsrechnung, die mit Unbekannten und Variablen umgehen muss. Denn die »Moskitos« erscheinen wie willkürlich gesetzte Punkte, was sie effektiv nicht sind: Wichtig ist, dass sie dem Künstler erst die Organisation beziehungsweise Ordnung seiner malerischen, seiner betont gestischen Handschrift erlauben.

2. Notwendigkeit

Betrachtet man die Arbeiten Stefan Steiners unter dem Blickwinkel seiner Herkunft und Ausbildung, so stellt sich – zumindest bei mir – eine leichte Irritation ein. Denn Steiner wurde an einer Schweizer Hochschule noch ganz in der Tradition der konkreten Kunst eines Max Bill oder eines Richard Paul Lohse ausgebildet. Sie erinnern sich: Quadrate und Rechtecke, unterworfen einer rigiden Systematik, die auf rationellen Notwendigkeiten beruht. Diese Folgerichtigkeit findet man in den Arbeiten Steiners kaum.
Eher könnte man eine Beziehung konstruieren zur »inneren Notwendigkeit« der Improvisationen Kandinskys, wenn dieser Begriff keine vielzitierte Leerformel wäre.
Was ich mit Notwendigkeit meine: die Tatsache, dass in den Arbeiten Steiners nichts Überflüssiges zu finden ist, dass bei aller scheinbaren Spontaneität jedes Detail des Werks stimmt, am richtigen Ort sitzt. Das reicht vom Bildträger bis zum Farbauftrag.

3. Freiheit

Das ist sicherlich der gefährlichste Begriff. Denn mit »künstlerischer Freiheit« lässt sich in den Augen des Publikums fast alles legitimieren. Und überhaupt ist »Freiheit« ein spekulativer Wert, der von jedem anders interpretiert werden kann. Dennoch glaube ich, dass man in der Betrachtung der Bilder Steiners fast automatisch auf diesen Begriff kommt. Denn man spürt in dem Farbkosmos eine innere Freude, eine Zwanglosigkeit, die den Eindruck des Gemachten, des Arbeitsprozesses, den man ja auch sieht, überspielt.
Aber die Freiheit in den Arbeiten Stefan Steiners ist noch etwas anderes. Eingedenk der Tatsache, dass sich jedes Kunstwerk erst in uns, im Betrachter, vollendet, heisst Freiheit in diesem Fall, dass wir frei sind zu entscheiden, was wir sehen, was wir wahr­nehmen können und wollen. Und dieses Spiel mit verschiedensten Wahrnehmungsebenen macht den Reichtum der Werke Steiners aus. Es sind keine Arbeiten, die uns eindimensional mitteilen, dass sie »Malerei« oder »Kunst« sind. Wir können sie als Farbkörper sehen, als Darstellung von Spiegelungen auf einer Wasseroberfläche, als Ausdruck eines vitalistischen Prinzips; wir können sie werten als einen Versuch, das Überwältigende der Wirklichkeit zu ordnen, als eine Möglichkeit, im Reich der Täuschungen und des Selbstbetrugs für einen Moment eine Wahrheit, und sei es eine ästhetische, zu erschaffen. Das ist natürlich subjektiv, besser gesagt, die Arbeiten sind einer Herausforderung unserer individuellen Sinne und Empfindungen – und deswegen schildere ich an dieser Stelle am besten meine eigenen Gefühle angesichts der Arbeiten Steiners, die ich als ein lebendiges Gegenüber begreife.




Manche Nächte sitze ich rauchend auf dem Balkon meines Davoser Domizils, betrachte den sternenübersäten Himmel, den es über den neonbeleuchteten Städten nicht mehr gibt. Ich schaue auf die gelbsilbrig pulsierenden Punkte – es mag manchmal auch ein Satellit dabei sein, auf schwarzblauem Grund, manchmal auch zwischen rosagrünen, grauschimmernden Wolkenbändern leuchtend – oder ist es der Rauch meiner Zigarette?
Wenn ich meine Brille abziehe, gleichzeitig meinen Kopf leicht links hin und rechts her bewege, verwandeln sich die Fixpunkte in das Dunkel zerschneidende Schlieren. Würde ich heftiger mit dem Kopf wackeln (aber man sollte auf Balkonen nicht tanzen), dann würden die hellen Löcher im Firmament zu bunten Farbbahnen. Versuchen Sie es einmal: die gelben Tupfen werden als Muster über das Viereck des Himmels schleifen, gelegentlich auch rasen. Es bilden sich gordische Schlingen, Möbiusbänder und ähnliches, übereinandergelagerte Chiffren der nicht mehr einsehbaren Endlosigkeit. Dann kann ich auch sagen: Es kann zu Schönheit führen, wenn man kurzsichtig ist, wenn das Sehen unscharf wird.
Ähnliches, gefiltert im Intellekt, geschieht mir, dann aber mit Brille, angesichts der Bilder, der Gemälde Stefan Steiners. Aber bereits im ersten Augenblick, da ich kunsthistorisch werden sollte, bemerke ich eine begriffliche Ungenauigkeit, vielleicht auch einen Wahrnehmungsfehler, denn das, was ich jetzt beschreiben sollte, sind gar keine »Bilder«, sind vielleicht Farbobjekte oder sonst etwas – aber es sind auf jeden Fall farbige Ereignisse, Ereignisse der Farbe.
Vom Künstler konstruierte, kalkulierte, kontrollierte Happenings des Bunten? Teils, teils. Farben werden aufgetragen; das Bild hingegen malt sich selbst. Es ist eine Frage der Methode, oder? In den Arbeiten Stefan Steiners gab es immer Ordnungs- beziehungsweise Ausgangspunkte, die der Künstler mit dem Begriff »Moskitos« bezeichnete. Von diesen Bildstellen aus, Markierungen bestimmter Punkte mit entflammten Streichhölzern und Klebestreifen, aber auch über sie hinwegstreichend, entsteht das Werk, einer ästhetischen Notwendigkeit folgend, die verbal kaum zu erfassen ist. Doch diese Entzündungen der Farbhaut, die schon immer nur dem Eingeweihten auffielen, verschwinden; die Moskitos fliegen weg. Als strukturelle Idee mögen sie noch anwesend sein; sichtbar sind sie meist nicht mehr. Was bleibt, ist das Eigentliche der Arbeiten Steiners: die Bewegung der Farben, die Spuren der Flugbahnen, die chromatischen Strudel oder gar Mahlströme – all das, was mich, den Betrachter, dazu bringt, den Kopf zu drehen, mich selbst zu bewegen, als würde ich mich auf einen Tanz mit den Farben einlassen.
Tänze können von mathematischer Präzision sein; bei aller spontanen Improvisation folgen sie einem Regelwerk, das in der Handlung interpretiert wird, lebendig wird. So wie die Werke Steiners, in denen man immer wieder bestimmten Prinzipien (wie beispielsweise Spiegelbildlichkeit, topologischen Abwicklungen, Fibonacci-Spiralen und so weiter) begegnet; die man aber nicht erkennen muss (manches kann auch Zufall sein), um das farbige Ereignis nachzuvollziehen und zu geniessen: Ich sehe das Gemachte, ich sehe die Kunst – und spüre das Gefühl, eine endlose Bewegung im ästhetischen Raum.
Im Oktober 2001 war ich mit Kind und Frau zum erstenmal in der Türkei. Weil wir auch dort einen anderen Sternenhimmel betrachten wollten, sassen wir nachts auf dem Balkon, bei geöffneter Tür. Seitdem wissen wir, dass man in der Türkei die Moskitos nicht sieht und nicht hört, aber spürt – was mein Sohn schmerzhaft erfuhr. Er wurde innerhalb weniger Stunden an Armen, Beinen und im Gesicht tätowiert. Die roten Markierungen der anfangs noch weissen Haut führten dazu, dass die Einheimischen das Kind bedauerten und die Eltern ob ihrer grenzenlosen Dummheit nicht gerade verachteten, aber zumindest ihre Fähigkeit der Fürsorge in Frage stellten. Wie auch immer, die Entzündungen verschwanden so rasch, wie sie gekommen waren; ebenso verschwanden – merkwürdigerweise – die Moskitos, als hätten sie genug, als hätten sie ihre Pflicht erfüllt; was blieb, war, dass mein Sohn, inzwischen gebräunt, noch wochenlang hell punktiert als Kunstwerk der Natur und als Mahnmal des erduldeten Schmerzes anzusehen war.

Roland Scotti, Davos, April 2002



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