Ausstellung nahherangehen im Kunstverein Leverkusen Schloss Morsbroich, 2022


Stefan Steiner – nah heran gehen

Als Maler hat sich Stefan Steiner der Farbe verschrieben: ihren Werten, ihrem Klang, ihren Dialogen. Farben ziehen sich an, stoßen sich ab, ergänzen sich, gewinnen Kraft aus den Nachbarn, bauen Brücken, setzen Akzente. Steiner malt auf dünnes Holz, auf die Oberfläche eines offenen Holzkorpus von geringer Tiefe. Ein präzises, von ihm festgelegtes Format, eine Form mit scharfen Konturen, eine Tatsache. Diese ist ein leichter und zugleich widerständiger (latent resonierender) Grund für die Gesten des Malers mit farbgetränkten Pinseln. Sie ist das Fundament für einen offenen Malprozess, den ausdauernden Dialog zwischen Künstler und Bild. Die Trennlinie zwischen Aktion und Reaktion, Hand und Auge, Intuition und Entscheidung ist porös. All diese Ambiguitäten zu fokussieren und fruchtbar zu machen, setzt ein „nahherangehen“ voraus, eine Forderung, die in dieser Formulierung – und Schreibweise – als Fragment B 122 aus Heraklits De Natura (in der 2022 erschienenen und von Aquarellen Stefan Steiners begleiteten Übersetzung des Philosophen Paul Good) überliefert ist.

Eine Geschichte erobern „Irgendwann muss es beginnen, dann werden die ersten Worte gesprochen, der Anfang einer endlosen Reihe, die, wenn alles seine Richtigkeit hat, jahrhundertelang zu hören sein wird.“ (Cees Nooteboom, Ex Nihilo. Eine Geschichte von zwei Städten, 2013) Vorher Leere – das Land, das Blatt, der Bildträger, das Vakuum. Es bedarf einer bewussten Aktion, dann kann es beginnen. „Was willst Du wirklich?“ Auf diese Frage antwortet der Engel Daniel/Bruno Ganz in Wim Wenders Film Der Himmel über Berlin: „Mir selber eine Geschichte erstreiten.“ So beginnt sein Weg in ein wirkliches Leben. Und auch der Weg zu einem Text, einem Bild, einer Komposition. Ohne Aufbruch, ohne Risiko gibt es keine Geschichte. Die herausfordernde Handlungsanweisung „conquerir une histoire“ (sich eine Geschichte erobern/erstreiten) kam Steiner als Französisch lernendem Schüler in den Sinn, sie begleitet ihn bis heute.

Die nächste Farbe Die Entscheidungen für die Größe des Bildträgers und die erste Farbe öffnen einen weiten Raum der Möglichkeiten. Irgendwann wird die Bildfläche zu einem Gegenüber, der Dialog beginnt. Das werdende Bild beharrt auf die Beantwortung der Frage: Was ist die nächste Farbe? Diese Entscheidung ist eng verwoben mit der nach der Breite und Qualität des Pinsels, der Konsistenz der Acrylfarbe, der Größe/Weite der Geste. Eine zunächst „falsch“ empfundene Farbe kann nichts verderben, vielmehr kann sie als Stimulans, als ein Transportmittel den Maler auf seinem Weg zum Bild um eine gefährliche Kurve navigieren oder ihn an eine Kreuzung führen, an der sich neue Pfade öffnen. In manchen Phasen zieht das Bild den Künstler mit, in anderen übernimmt er die Führung. Geleitet von der Intuition, die sich aus der Erfahrung – das Atelier als Nährboden – eines Sehenden und Handelnden speist.

Kreisen Ein Stein fällt ins Wasser, Kreise breiten sich aus. Um eine Frage kreisend entstehen Gedanken, Ideen. Eine Hand kreist liebkosend, wischend, schleifend über eine Oberfläche. Schritte schreiben kreisende Spuren in den Grund. „Die Farben zeigen sich immer zusammen mit der Geste, in der sie aufgetragen wurden.“ (*) Die über den Bildrand hinausgehende, weit kreisende Farbgeste wird mit engeren, kleineren verwoben, die sich im Inneren des Bildgevierts überlagern. Kreisend, nie zum Kreis geschlossen.

Die letzte Farbe Stein über Stein bildet das Gewölbe, ein Schlussstein bringt Stabilität, er trägt alles. Stefan Steiners Arbeitsprozess ist ein langsam voranschreitender, Farbspur legt er über Farbspur, Tage, Wochen, Monate. „Jede aufgetragene Farbe (mit Geste) macht etwas mit dem bereits bestehenden Farbenmeer oder Farbenmoor oder Farbensumpf.“ (*) Nicht Mischung, sondern Interaktion. Die Palette der Farbgesten ist groß: kompakt und klein, ausholend und an den Rändern ausfransend, opak oder durchscheinend, geschlossene Form oder Farbschleier, Nebeneinander und Überlagerung, eine Farbform verschwindet, eine andere ist gewonnen. „Was ich sicher sagen kann, die neue Farbe, die aufgetragen wird, fragmentiert die darunterliegenden Farbgesten. Einzig die letzte Farbe sieht man im Auftrag ganz.“ (*) Sie ist der „Schlussstein“, der Punkt am Ende des Satzes, Gewissheit? Nun öffnet sich der verwobene Dialog zwischen Maler – gleichermaßen Akteur und Rezipient – und Bild für die Reaktion und Resonanz Dritter.

„Es ist, was es ist“ (*) Die Bilder von Stefan Steiner lassen einen nicht widerstandslos „eintreten“. Ein einziger Farbton, ein dominanter Kontrast vermögen es, den Blick zu blockieren. Den ersten Blick … Dann erzwingen andere Eindrücke näher heranzugehen. Das Rechteck des Bildträgers, die kreisend aufgebrachten Farben und die Spuren des Pinsels sind Agenten in einem vielstimmigen Dialog, in dem sich alles verdichtet. Jedes Element, das in den Blick gerät, kann den Weg ins Bild öffnen. Komplexe Beziehungen geben sich zu erkennen, erlauben neue Befunde: über die Vergangenheit, die Chronologie des Malprozesses, die in den Farbschichten gespeicherte Zeit, über die Handlungen des Malers. Die Zukunft ist angelegt, aber offen. Das Bild(objekt) ist – im Prozess des Entstehens wie auch vollendet – ein Resonanzkörper, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Die Farben reagieren aufeinander, stoßen sich ab, sie verklammern den Bildraum und schlagen Brücken, zu anderen Bildern und in die Welt.

* Stefan Steiner im Gespräch, März 2022

Maerz 2022

Maria Müller-Schareck


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