Zur Malerei von Stefan Steiner

Reine Malerei


Als Ad Reinhardt Ende der fünfziger Jahre schrieb, das "eine Thema von hundert Jahren moderner Kunst" sei "das Gewahrwerden der Kunst über sich selbst",1 benannte er ein entscheidendes Motiv, das die Malerei diese Jahrhunderts vorantrieb. Er formulierte damit aus der Sicht des Künstlers, was Kunsthistoriker später als die "Selbstreflexivität" der modernen Malerei bezeichnen sollten. Damit meinte man, daß es zu den Eigentümlichkeiten wichtiger Strömungen in der Malerei unseres Jahrhunderts rechne, daß sie, als sie sich von traditionellen Aufgabenstellungen wie "Nachahmung der Natur" oder "Wider­spiegelung der sichtbaren Wirklichkeit" ­befreit fanden, das Wesen der Kunst und des Bildes mit den Mitteln der Kunst selbst zu untersuchen begannen. Als einen der Gründe dieser um 1880 beginnenden Tendenz in der Malerei führt man gewöhnlich die Erfindung der Photographie an, welche den Künstlern gleichsam "schockartig" vor Augen geführt habe, daß ein technisches Medium zur Erfüllung ihrer traditionellen Aufgabe einer Nachahmung der Natur im Bild weit fähiger sei, als alle Bemühung der malenden Hand des Künstlers. Zudem gewahrten sie wohl nicht zuletzt am Beispiel des neuen Mediums "Photographie", daß das Sehen des Menschen, zumal jenes aufmerksame Sehen, das künstlerische Bilder verlangen, gar kein mechanisch-reproduktiver Akt sei, wie die Bilderzeugung einer Kamera, sondern vielmehr ein produktives Interpretieren des menschlichen Auges, welches durch inno­vative Bilder intensiviert, verändert, ja geschult werden kann.2 Von der Pflicht zur bloß widerspiegelnden Nachahmung der Wirklichkeit befreit, waren die Künstler gezwungen, sich über Aufgaben und Möglichkeiten der Kunst neu zu verständigen. Im Zuge dieses Unternehmens wurde die Malerei – wie man weiß – "abstrakt". Denn sie abstrahierte von allen wiedererkennbaren, aus der alltäglichen Erfahrung des Sehens vertrauten Bildgehalten, um auf nichts Außerbildliches mehr Bezug zu nehmen. Vielmehr versuchte sie, im Bild die Mittel ihrer eigenen Sprache, will heißen: die Möglichkeiten von Farben und Formen auf der gewöhnlich zweidimensionalen Fläche eines Bildträgers, auszuloten und das Sehen vom bloßen Wiedererkennen von Dingen zu befreien. So wurde die Malerei, wie der amerikanische Philosoph Arthur C. Danto vor einiger Zeit schrieb, in unserem Jahrhundert geradezu zu ihrer eigenen, mit künstlerischen Mitteln ausgeführten Theorie.3 Ad Reinhard, vielleicht einer der wichtigsten Exponenten dieser eigentümlichen Tendenz, hat dieses Programm in seinen "Black Paintings", die er manchmal auch "letzte Bilder" nannte, an eine äußerste Grenze geführt.

Seither ist immer wieder vom "Ende der Malerei" die Rede; insbesondere in unseren Tagen. Die "klassische Malerei" sei am Ende, also als solche nicht nur in ihren figurativen, sondern auch in ihren abstrakten Formen ausgereizt und in ihren künstlerischen Potentialen erschöpft. Insbesondere eine Malerei, die am tradierten Tafelbild festhält, wird manchem heute geradezu als anachro­nistisch erscheinen. Neue Medien wie Video oder medien­­über­spannende Kunstformen, die in raumgreifenden Installationen Visuelles, Auditives und Taktiles vereinen, dominieren die Szene. Wo man noch malt, schließt die Malerei – so scheint es – entweder auf wenig innovative Weise an ältere Bildkon­zep­te an wie die Farb­feldmalerei unserer Tage, oder sie zelebriert ihre eigene­ Auflösung: etwa durch die inszenierte Verweigerung visueller Bildeinheit, die Öffnung des Bildraumes in den Umgebungsraum oder die Integration skulpturaler Effekte. Und so sieht es gelegentlich so aus, als könne man an Malerei auf der in sich geschlossenen, zweidimensionalen Bildfläche gegenwärtig überhaupt nurmehr ein kunsthistorisch-antiquarisches Interesse nehmen.

Die Malerei des 1963 in der Nähe von Zug in der Schweiz geborenen Künstlers Stefan Steiner teilt diese Ansicht nicht. Allen Zweifels an der zeitgenössischen Berechtigung der Malerei und auch aller Problematisierung ihrer­ Möglichkeit abhold, erscheint die Arbeit Stefan Steiners, der Malerei bei Anton­ Egloff an der Schule für Gestaltung in Luzern und bei Günther Uecker an­ der Kunst­akademie in Düsseldorf studierte, geradezu von einer konservativen­ Grundstimmung getragen. Denn er hält an der überkommenen Idee des autonomen Tafelbildes als einer in sich ruhenden visuellen Einheit bewußt und nachdrücklich fest. Wo seine Arbeiten visuell überzeugen, verteidigen sie diese Idee gegen die verbreitete Selbstverleugnung der Malerei durch ihr sichtbares Dasein.

Wie ebenso die Arbeiten anderer jüngerer Maler, entspringen auch seine neuesten, visuell außerordentlich dichten und von hoher Expressivität kündenden Bilder in gewisser Hinsicht aus der Auseinandersetzung mit einer bereits klassischen Tradition der Moderne. Denn diese mit vornehmlich kreisenden Pinselbewegungen Farbschicht auf Farbschicht türmenden Sichtbarkeitsgebilde zeigen sich auf den ersten Blick einem aktional-gestischen Bildkonzept verpflichtet, und zwar weniger dem des "Informel", an das sie manchen Betrachter erinnern, als vielmehr jenem, das beispielsweise Jackson Pollock im sogenannten "Abstrakten Expressionismus" der fünfziger Jahre entwickelte.

Mit diesem Bildkonzept teilt Steiners Malerei eine Reihe von Merkmalen. So vermeidet er absichtlich jeglichen malerischen Illusionismus, ja schlechthin alle Anspielungen auf identifizierbare Formgestalten innerhalb seiner primär gestisch-expressiv wirkenden Farbtexturen. Mit der Abkehr von jeder Art von bildlichem Illusionismus hängt zusammen, daß seine Malerei auch alle räumliche Tiefenwirkung vermeidet, um "rein Malerisch" zu bleiben. Ist doch gerade in der Flächig­keit des Bildes, wie der Theoretiker des "Abstrakten Ex­pressionismus", Clement Green­berg, immer wieder betonte, die un­ter­scheidende Wesenseigen­tüm­lichkeit des Mediums "Malerei" zu sehen. Schließlich behandelt Steiner die Farbe nicht als Kolorit an Formgestalten, sondern als selbst gestaltendes, be­deu­tung­s­mäßig autonomes und von allen gegenständlichen Anspielungen abgelöstes Ausdrucksmittel, um nur noch diesen Punkt zu nennen, der Steiner mit der älteren Moderne verbindet. Insofern er sich solche Merkmale eines heute schon "klassischen" Bildkon­zepts produktiv anverwandelt, arbeitet Steiner fort an einem andeutungsweise schon erwähnten Programm, dessen Möglichkeiten noch keines­wegs ausgelotet und dessen Ziele wohl auch niemals völlig zu erreichen sind: an dem Programm, das Auge des Betrachters an einem bloß flüchtig wiederkennenden Sehen zu hindern und einem intensivierten, sich auf die bildintern eröffnete Sichtbarkeit einlassenden Sehen zuzuführen.

Trotz der genannten Berührungspunkte mit älteren Bildauffassungen gehört Steiners Malerei innerhalb der jüngeren Generation freilich zu den eigenständigsten Erscheinungen. Betonte beispielsweise die ältere Moderne vielfach die in der Geste des Malens zum Ausdruck kommende Subjektivität des Malers sowie das Malen als vorrationale, vom Unbewußten geleitete Aktion, ist das Steinersche Bild umgekehrt das Ergebnis eines strengen malerischen Kalküls, so daß man seine Malerei geradezu als eine "konzeptuelle" apostrophieren möchte. Sie begreift das autonome Tafelbild, das nicht nur Geste und Manier ist, sondern als in sich geschlossene visuelle Erscheinung bestehen kann, als – um eine Formulierung von Raimer Jochims zu gebrauchen "realisierte Identität von Farbe und Fläche"4 unter dem Primat der Sichtbarkeit stiftenden Kraft der Farbe; anders ausgedrückt: als wechselseitige Durchdringung aller malerisch eingesetzten Mittel, die im Auge des aufmerksamen, sich Zeit des Sehens gewährenden Betrachters die Wahrnehmung eines wohl ausgewogenen visuellen Gleichgewichts entstehen läßt. Es handelt sich um gleichsam "entmaterialisierte" Bilderscheinungen.

So spontan und expressiv Stefan Steiners neue Bilder auch wirken mögen: Seine Bilderscheinungen erreicht er durch methodische, immer gleiche Maßnahmen. Denn die "Freiheit" des Sehens, die gute Bilder dem Betrachter einräumen, "wird nur durch die strengste Kunstdisziplin und durch das gleich­förmigste Atelierritual verwirklicht". So jedenfalls schrieb schon Ad Reinhardt. Und er fügte eine Bemerkung hinzu, durch die sich auch Steiners künstlerisches Vorgehen cha­rakterisieren läßt: "Die eine Arbeit … für einen bildenden Künstler", notierte er, "die eine Aufgabe beim Malen besteht in der wiederholten Benutzung der Leinwand in einer Größe – … des einen formalen Entwurfs, des einen freihändigen Pinselstrichs, des einen Rhythmus, des einen Arbeitens, bis alles in einer Auflösung und Unteilbarkeit aufgeht". Stefan Steiner arbeitet gegenwärtig mit drei verschiedenen Bildformaten, auf die er denselben formalen Entwurf und dieselben malerischen Maßnahmen anwendet: mit einteiligen kleinen, etwas größeren zweiteiligen und großen dreiteiligen. Gelegentlich hat er auch mit vierteiligen Bildern experimentiert, allerdings ohne zu Resultaten zu gelangen, die ihn befriedigten. Die Bildfläche teilt er gewöhnlich – wie die Bildtitel manchmal verraten – nach dem Fibonacci-Schema (1,1,2,3,5,8 usw.) auf. Der "formale Entwurf", den er auf alle drei Bildvarianten anwendet, ist folgender: Auf dem Bildträger schafft er zunächst eine visuelle Ausgangssituation, indem er vor dem Auftrag der ersten Farb­schicht entflammte Streichhölzer rhythmisierend auf die Bildfläche­ setzt. Dies führt zu insektenartig anmutenden, von Steiner "Moskitos" genannten­ Flamm­spuren auf der Leinwand. Als Brandmale schaffen diese Sicht­barkeitswerte im Bild nicht nur eine assoziationsreiche visuelle und atmosphärische Situation; als einzelne ebenso wie durch ihre Anordnung bedingen sie zugleich die expressive Ordnung der Farbe. Denn die kreisende Bewegung der malenden Hand geht von ihnen aus und führt zu ihnen zurück. Eine Zeitlang schützt Steiner die "Moskitos" durch Klebestreifen vor der keineswegs heftig und pastos, sondern in langen­ Zeitspannen der Bildentstehung stets zurückhaltend und bedachtsam aufgetrage­nen Acrylfarbe. Wenn er sich irgendwann im Malprozeß entschließt, jene Bildordnung stiftenden Brandmale freizulegen, zeigt sich ihre kompositionelle Ordung in, ja als eins mit der expressiven Ordnung der Farbe.

Dort, wo Steiners Malerei visuell am überzeugendsten ist, wo die Ordnung der Moskitos völlig mit der Logik der Farbordnung zur Einheit verschmilzt, stellen diese Bilder dann seine Vorstellung von der visuellen Einheit des Tafelbildes sichtbar vor Augen. Sie haben es nicht nötig, im Bild künstlerisch auf das Wesen der Malerei zu reflektieren. Sie vertrauen darauf, es zeigen zu können. Was diese Bilder dabei zeigen, läßt sich inhaltlich – natürlich – unabhängig von unserer je eigenen visuellen Erfahrung nicht sagen. Denn sie zeigen nicht etwas Wiedererkennbares und nichts irgendwie Bestimmes, das sich begrifflich erfassen ließe. Sie zeigen einfach Malerei. Um letztmals mit Ad Reinhardt zu sprechen: Sie zeigen keine "Linien oder Vorstellereien, keine Gestalten oder Kompo­nie­rereien oder Darstellereien, keine Visionen oder Empfindungen oder Impulse, keine Symbole oder­ Zeichen oder Impastos, keine Dekorierereien oder Färbereien oder Bildnereien, keine Freuden oder Schmerzen, keine Zufälle oder Ready-mades, keine Dinge, keine Ideen, keine Beziehungen, keine Attribute, keine Qualitäten – nichts, das nicht­ zum Wesen" der Malerei "gehört". Insofern sind sie "Reine Malerei".
Stefan Majetschak, Berlin 1997


1  Ad Reinhardt, Kunst-als-Kunst, in: ders., Schriften und Gespräche, hrsg. von Thomas Kellein, München 1984, wiederabgedruckt in: L. Bette u.a. Zur Kunst, Düsseldorf 1992. Dort alle weiteren Zitate. 2  Siehe dazu Vf., Licht und Pigment. Über einige Hintergründe der Malerei von Markus Baldegger, in: ders. (Hrsg.), Licht und Zeit, Düsseldorf / Bonn 1997. 3  Arthur C. Danto, Das Ende der Kunst, in: ders., Die philosophische Entmündigung der Kunst, München 1993. 4 Raimer Jochims, Visuelle Identität. Konzeptionelle Malerei von Piero della Francesca bis zur Gegenwart, Frankfurt / Main 1975, S.22


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