Lektüren

Stefan Steiner ist Maler. In seinem Atelier bei Köln legt er geduldig Farbschicht über Farbschicht in fortwährender Repetition eines einzigen Malgestus. Es entstehen konzeptuelle abstrakte Bilder mit sich endlos überlagernden Farbtexturen, "Sichtbarkeitsgebilde" nennt Stefan Majetschak sie. Neben diesen Bildern arbeitet Steiner seit über 20 Jahren an Büchern, die als Unikate oder in kleinen Auflagen erscheinen und zuletzt 2006 in der Kunst- und Museumsbibliothek Köln und 2008 in dem Antiquariat Gundel Gelbert in Köln gezeigt wurden. Es gibt verschiedene Werkgruppen. Sie berühren sich mehr oder weniger mit dem malerischen Werk, basieren aber fast alle auf der Lektüre von Büchern.
Dabei geht es selten um eine inhaltlich orientierte Lektüre wie bei Steiners Auseinandersetzung mit William Faulkners Roman Moskitos (1991–2004). Wenngleich an so exponierter Stelle wie dem Buchtitel verankert, werden die Moskitos im gesamten Roman kein einziges Mal namentlich erwähnt. Sie treten ausschließlich in Form des Personalpronomens auf. In dieser Anonymität und Verschwiegenheit bilden sie einen Subtext der Begierden und Sehnsüchte, die unter der Oberfläche des Handelns lauern. Steiner baut Faulkners Buch in Format und Seitenumfang nach und markiert mit Schmauchspuren von Streichhölzern alle Textstellen, in denen die Moskitos auftreten. In späteren Ausgaben weichen die Schmauchspuren dem Stempeldruck "Moskitos", Aquarellfarbe kommt hinzu.
Über die Faulkner-Rezeption und damit über den literarischen Bereich hinaus spielt der Werkkomplex in diesen vierzehn Jahren eine wichtige Rolle bei Steiners Malerei. Bestimmte Markierungen, "Moskitos", stellen erste Orientierungspunkte für die gestischen Schwünge bereit. In weiteren Arbeitsprozessen werden diese Spuren entfernt, aber zugleich sorgsam gesammelt und aufbewahrt, womit auch sie einen verborgenen Subtext der Malerei bilden.
Anders verfahren dagegen die Lektüren, in denen sich die Frage nach dem Buch auf elementare Weise neu stellt: Aus bildkünstlerischer Sicht werden "Seuils", Schwellen, (Gérard Genette) oder "Randbezirke" des Textes (Harald Weinrich) sichtbar und greifbar gemacht. Insbesondere Genettes Untersuchung Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches stellt in der Literaturwissenschaft einen Wendepunkt dar, indem die Bedeutung der bis dato eher als Beiwerk rezipierten paratextuellen Elemente des Buches in ihrer die Lektüre wesentlich steuernden Funktion verdeutlicht werden. Steiner leistet dazu einen eindringlichen Beitrag aus der Sicht der Bildenden Kunst, ohne eine Zeile Genette gelesen zu haben.
Strassenstaub, ein ganz in Weiß gehaltenes Buch, liegt 2001 während der Ausstellung seiner Bilder aus und schreibt sich durch das Zurücklassen von Gebrauchsspuren beim Blättern qua Lesen selbst. In einer weiteren Verschränkung von Visualität und Haptik sind die Vorsatzblätter gegen die Laufrichtung des Papiers gebunden, so dass sie zwar optisch nicht abgehoben, aber durch die andere Spannung des Papiers spürbar sind. Für diese Ausstellung in der Universitäts- und Landesbibliothek legt Stefan Steiner eine neue Ausgabe vor, in der er die Schweizer Orthographie zugunsten des ß aufgegeben hat. Das reinweiße Buch in die Hand zu nehmen, verlangt Überwindung – Bücher beschmutzt man nicht. Aber die Seiten sind sorgfältig auf die Berührung der Hand vorbereitet; jedes Blatt ist mit Halbkreide grundiert, um es aufnahmefähig zu machen für den Straßenstaub, mit dem sich jeder Besucher in das Buch einschreiben kann.
Die Bedeutung des Umblätterns im Vorgang der Lektüre ist keine Neuentdeckung. Gerhard Rühm beispielsweise wendet sich in einer Vermischung von Produktions- und Rezeptionsprozess unmittelbar an den Leser:

ich zünde mir erst eine zigarette an.
(sind Sie raucher?)
so, jetzt blättern Sie bitte um.

Bei Steiner inszenieren sich Lesen und Schreiben unentwirrbar im Blättern des weißen Buches durch den Benutzer.Die Seitenzahl als paratextuelles Element tritt in ihrer Trivialität und Selbstverständlichkeit so weit zurück, dass man sich ihrer kaum bewusst ist. Selbst bei Genette findet sie keine Berücksichtigung. Er erwähnt nur imKontext von "Titelseite und Zubehör", dass die ersten und letzten Seiten des Buches in der Regel nicht paginiert sind, womit er die Paginierung als solche stillschweigend voraussetzt. Die Konkrete Poesie, die sich über die Materialität von Sprache hinaus auch intensiv mit der von Büchern auseinandersetzt, destruiert das Selbstverständliche dieser Konvention in der Buchherstellung:

in diesem buch folgt die seite 2 der seite 1 und die seite 7
der seite 6 so dass hochgeschätzter leser am ende die reihe
1 2 3 4 5 6 7 8 9 … bis ca. 150 entsteht.
Gerhard Rühm

Steiner thematisiert in seinem 2006 erschienenen Künstlerbuch zählen, von eins bis sechsundneunzig die Präsenz der Pagina, indem nur sie allein die Protagonistin ist, geht aber noch einen Schritt weiter. Denn nicht nur die Pagina selbst, sondern erst recht deren Springen, das aufgrund der üblichen Bindung unvermeidbar ist, bleibt von den Lesern in der Regel unbemerkt. Steiner setzt sie in einer Größe von 96 Punkt mittig auf jede ansonsten leere Seite, ohne jeglichen Versprung. Mit einem Umfang von 96 Seiten stellt diese Arbeit gleichzeitig die Frage, wie viele Seiten ein Buch zum Buch machen (vgl. dazu: ein Buch, ein schmales, 2002). Vorsatz, Nachsatz und Umschlag fehlen. Zu erwerben ist nur der Buchblock, beginnend mit der Pagina 1 auf der ersten Seite, endend mit der Pagina 96 auf der letzten. Die Einladungskarte zu der Ausstellung 2006 in Köln, in der das Bändchen herausgegeben wurde, ist jedoch mit Falzen versehen und kann damit die Funktion des Umschlags übernehmen. Zu den meisten seiner Bücher hat Steiner kurze Begleittexte in einer ihm eigenen Diktion verfasst, welche die Balance zwischen Kommentar und Poesie wahren, hier lautet er:

Die Pagina, die im Buch ein Buch, ein schmales sich unruhig
bewegt, wird hier zum Protagonisten des Buches.
Im Buch wird getan, was im Titel angekündigt wird.

Steiners Bücher treten leise auf, in einer fast calvinistischen Strenge, aber sie erzwingen in ihrer Beharrlichkeit von dem Rezipienten eine radikale Entschleunigung und ermöglichen so die Wahrnehmung des Übersehenen. Konsequenz und Kargheit schließen den humorvollen Umgang mit Fragen der Typographie nicht aus. In hurenkinder und schusterjungen (2004) setzt Steiner die kurvilineare Geste, die das Grundelement seiner Malerei bildet, als drucktechnisch unzulässige Hurenkinder und Schusterjungen, in Satzspiegel (1994) erprobt er im Stempeldruckverfahren die Grenzen des typographischen Spielraums und macht sie dadurch überhaupt erst bewusst.
Im SS 2007 war Stefan Steiner Gastvortragender in meiner literarischen Übung "Von Dada bis schmit. Experimentelle Schreibverfahren". Die Studierenden verfolgten die Präsentation seiner Bücher mit großem Interesse, worauf über die eigene Faszination von diesen Arbeiten hinaus die Idee zu einer Ausstellung in einem literaturwissenschaftlichen Kontext gründet. Der interdisziplinäre Ansatz versteht sich dabei als Versuch, die Möglichkeiten der Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft in der Grenzüberschreitung der Disziplinen zu erproben, wobei Differenzen des Bild- und Sprachkünstlerischen sich gleichermaßen hervor- wie aufheben und Kontaminationen sichtbar und sagbar werden. Steiner macht keine Künstlerbücher im traditionellen Sinn. Er setzt sich vielmehr im Medium Buch mit dessen Medialität auseinander. Deshalb scheint die Universitäts- und Landesbibliothek Bonn jetzt nach ihrer Wiedereröffnung ein dafür geradezu prädestinierter Ort. Sie bietet über die große Öffentlichkeit hinaus die Chance, einen Personenkreis, der tagtäglich intensiven Umgang mit dem Buch hat, auf ungewöhnliche Art und Weise zu einer veränderten Sicht auf das zu führen, was ihm fraglos und selbstverständlich ist. Das grundsätzliche Problem der Ausstellbarkeit von Künstlerbüchern war ein Diskussionspunkt in der Planungsphase. Zwanzig Vitrinen werden bespielt. Von den Unikaten lässt sich nur eine Ansicht zeigen, ein Blättern ist nicht möglich. Die Präsentation von Reproduktionen weiterer Seiten verbietet sich im Interesse einer Konzentration auf die Exponate. Deshalb wird Stefan Steiner am Donnerstag, dem 7. Mai, die Vitrinen öffnen und den Besuchern der ULB für ein Gespräch zur Verfügung stehen, vielleicht auch etwas zum enigmatischen Titel seiner Ausstellung sagen.
Gabriele Wix, Bonn 2009



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